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Von Ralf Wuzel und Katja Anders
Mit der Interessenvertretung 50Plus sind wir über das Jahr hinweg auf vielen Karrieretagen in ganz Deutschland unterwegs. Wir wollen mit Menschen ins Gespräch kommen – mit denen, die auf Jobsuche sind, über 50, mit viel Erfahrung im Gepäck, mit Geschichten, Erfolgen, Brüchen im Lebenslauf. Uns interessiert, was sie bewegt, was sie suchen und vor allem, was sie sich wünschen – für eine berufliche Zukunft, die bei den meisten noch längst nicht enden soll.
Was dabei immer wieder auffällt: So verschieden die Lebenswege auch sind – ein Satz fällt oft, fast schon resigniert: „Es ist doch ständig vom Fachkräftemangel die Rede – aber ich merke davon nichts.“
Diese Aussage kommt nicht von ungefähr. Menschen berichten von zig erfolglosen Bewerbungen, trotz bester Voraussetzungen: jahrzehntelange Berufserfahrung, solide Ausbildungen, Motivation und Erfolge. Und trotzdem: Absage um Absage – oder gar keine Reaktion. Das hinterlässt Spuren. Man spürt die Enttäuschung, manchmal sogar Verbitterung.
Hat sich der Arbeitsmarkt schon wieder gedreht?
Wenn man den Gesprächen auf den Karrieremessen zuhört, kann man sich schon fragen: Ist der angebliche Mangel an Fachkräften vielleicht gar keiner? Haben wir längst wieder einen Arbeitgebermarkt? Tatsächlich fällt auf, dass auf den Messen deutlich weniger Firmen vertreten sind als noch vor ein oder zwei Jahren. Gleichzeitig strömen auffällig viele Jobsuchende durch die Hallen.
Dafür sprechen auch unsere Erfahrungen aus Gesprächen, hier ein Beispiel von zwei Unternehmen, unterschiedliche Branchen, angesprochen auf Arbeitnehmer über 50: erste Firma sagt auf Nachfrage: „Wir bekommen genug Bewerbungen, danke.“ Die zweite meint: „Wir haben aktuell keine offenen Stellen“, wirbt jedoch mit einem Banner für ihren Wachstumskurs mit Verweis auf die eigene Karriereseite. Es entsteht ein seltsames Bild: Wo ist denn nun der Mangel oder pokert die Wirtschaft, ganz nach dem Motto: „Seht her, uns geht es gut!“
Und kurz darauf liest man in den Medien wieder von dramatischen Engpässen, von fehlenden Fachkräften, von alarmierenden Prognosen, vor allem in strukturschwachen Regionen.
Fachkräftemangel oder eher ein Matching-Problem?
Klar ist: Der Fachkräftemangel ist real – aber eben nicht überall. In bestimmten Branchen wie Pflege oder Handwerk fehlt es tatsächlich an qualifizierten Personen. Aber das bedeutet nicht, dass jede qualifizierte Fachkraft automatisch leicht einen neuen Job findet.
Besonders in kaufmännischen oder administrativen Bereichen ist die Nachfrage oft überschaubar – auch, weil viele Prozesse mittlerweile digitalisiert wurden oder durch KI ersetzt werden. Und so sitzen viele daheim, gut qualifiziert, motiviert – aber ohne Einladung zum Gespräch. Und meist wird man nie erfahren, woran es wirklich lag. War man zu alt? Zu spezialisiert? Zu teuer? Oder hat einfach die KI entschieden, dass man nicht passt – abends beworben und am nächsten Morgen die standardisierte Absage im Postfach? Manche Firmen wirken ohnehin so, als suchten sie gar keine echten Menschen für reale Teams, sondern Idealfiguren: jung, flexibel, top ausgebildet, möglichst günstig – aber bitte mit dreißig Jahren Berufserfahrung, davon 40 im Ausland, und sofort verfügbar.
Und während Bewerber sich bemühen, Weiterbildungen machen (wobei Weiterentwicklung treffender wäre), neue Wege suchen, laufen sie immer wieder gegen eine unsichtbare Wand – gebaut aus automatisierten Systemen, vordefinierten Kriterien und mangelnder Rückmeldung.
Auch auf Unternehmensseite herrscht Frust – nur aus anderen Gründen
Viele Unternehmen berichten, dass Stellen lange unbesetzt bleiben, dass Projekte sich verzögern, dass Teams überlastet sind. Wenn wir aber nachfragen, woran es liegt, kommt oft heraus: Das Anforderungsprofil ist so eng gestrickt, dass kaum jemand passt. Die Bezahlung überzeugt nicht. Oder der Bewerbungsprozess zieht sich so lange hin, dass gute Kandidaten längst abgesprungen sind.
Manchmal haben wir das Gefühl: Da sucht jemand das perfekte Puzzlestück – und vergisst dabei, dass man auch mit einem leicht anders geformten Teil ein gutes Bild zusammenbauen kann.
Setzen wir noch einmal die 50+-Brille auf: Im Jahr 2024 waren knapp über 12 Millionen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland 50 Jahre und älter. Das sind ca. 35% (Quelle: Statista). Werden nun durch KI oder andere automatisierte Systeme Jahrgänge vor 1975 bereits aussortiert, geht dieses Potential im Bewerbungsprozess verloren. Obwohl das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Altersdiskriminierung verbietet, scheint sie in der Praxis gang und gäbe zu sein – gut getarnt, kaum greifbar, aber spürbar.

Und das ist nicht nur ungerecht, sondern auch kurzsichtig. Denn Erfahrung schlägt Wissen und macht handlungsfähig. Hinzu kommt: Soziale Kompetenzen, Resilienz und Krisenfestigkeit werden wieder wichtiger – es sind die wahren Future Skills, Fähigkeiten, die wir künftig in der Wirtschaft brauchen.
Was sich ändern muss – und was Mut macht
Natürlich kann KI vieles erleichtern – Bewerbungen schneller sichten, Abläufe beschleunigen. Aber sie ersetzt kein echtes Interesse, keinen wertschätzenden Blick auf den Menschen hinter dem Lebenslauf.
Was wir brauchen, ist mehr Offenheit: dafür, dass nicht jeder Kandidat exakt ins Stellenprofil passen muss. Dafür, dass wir in gute Leute investieren, sie einarbeiten und entwickeln. Dafür, dass Menschen eine Chance erhalten – auch wenn der letzte Job schon ein paar Jahre zurückliegt oder die Branchenerfahrung nicht exakt stimmt.
Und auch auf Bewerberseite passiert viel Gutes. Wir erleben auf den Karrieretagen so viele Menschen, die mutig neue Wege gehen: sich weiterentwickeln, Netzwerke aufbauen, Branchen wechseln, sich einfach nochmal neu erfinden. Diese Bereitschaft ist da. Und sie macht Hoffnung.
Der vielzitierte Fachkräftemangel existiert zwar – aber er zeigt sich nicht in der Zahl der Bewerbungen, sondern in der Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Zwischen starren Anforderungen und echten Talenten. Deshalb müssen Personalabteilungen den Blick nach außen richten und herausfinden, wie man mit den richtigen Menschen im Team das Unternehmen in die gewünschte Richtung steuert.
Solange hochqualifizierte Menschen reihenweise Absagen bekommen, weil sie nicht exakt ins Schema passen – und Firmen gleichzeitig klagen, dass sie niemanden finden –, ist klar: Wir haben kein Bewerberproblem. Wir haben ein Matchingproblem. Und ein Altersproblem obendrauf.
Beides ist lösbar.